Ein Hype ist ein Hype ist ein Hype – Julia Engelmann bewegt die Nation

Nein, ich hänge mich nicht auch noch an den Hype, um ein Stücken vom Erfolgskuchen abzukriegen. Ich rätsel nur seit Tagen herum, warum mich dieses Video nicht so berührt. Daher folgen nun meine persönlichen Gedanken zum berühmten Poetry-Slam Beitrag von Julia Engelmann.

Damit auch noch der letzte Internet-User begreift, um was es geht, hier noch mal das besagte Video, das nun schon 3 Millionen Mal angesehen wurde:

Das Video wird seit ein paar Wochen frenetisch gefeiert und mit überschwänglichem Lob bedacht. So viel zur Erklärung.

Als ich mir das Video endlich auch mal angeschaut habe, nachdem es von mehreren Facebook-Kontakten ungewohnt emotional kommentiert wurde, hatte ich folgenden Eindruck:

Ein guter Poetry-Slam-Beitrag, souverän vorgetragen.

Mehr halt auch nicht. Die sensiblen Reaktionen auf das Video kann ich also leider nicht nachvollziehen, würde sie aber gerne verstehen! (Anmerkung: Ich bin kein Eisklotz!) Also mache ich mir seit einigen Tagen ein paar Gedanken darum:

  • Liegt es daran, dass die meisten Leuten noch keine Poetry-Slams kennen? Tatsache ist, dass Poetry-Slams eine besondere Atmosphäre haben. Die Slammer sind meist unbekannte eher junge Leute, die in ganz normaler Straßenkleidung auf die Bühne treten und ihre selbst verfassten Werke vortragen.
    Es ist ein bisschen eine Casting-Situation, denn der Slammer ist von sich überzeugt und meint, er hat es verdient auf einer Bühne zu stehen und seine Werke zu präsentieren. Das Publikum ist halb wohlwollend, halb kritisch abwartend. Es will überzeugt werden. Da meist keine Musik dabei ist und die Slammer auch nicht rappen, wirkt der Vortrag oft etwas peinlich.
    Das macht den Reiz aus. Es geht durch diese pure Atmosphäre sehr um den Inhalt des Gesagten, aber auch um die Stimme, den Tonfall und das Erscheinungsbild des Slammers.
    Wichtig: Jeder hat eine Chance, auch skurrile Gestalten sind sehr willkommen und erfolgreich. Wer diese knisternde und auch etwas unangenehme Atmosphäre von Poetry-Slams nicht kennt und in diesem Video vielleicht zum ersten Mal mitbekommt, der wird sicherlich davon beeinflusst. Natürlich gehört Mut dazu, sich so allein ohne Musik und ohne Accessoires auf die Bühne zu stellen und den Leuten etwas zu erzählen.
  • Ist es eine Generationsfrage? Sicherlich trifft Julia mit ihren Worten am meisten ihre eigene, die „Smartphone-Generation“. Diese wollte sie mit ihren Worten auch erreichen und bewegen. Das kann ich nachvollziehen und das finde ich auch wirklich gut! – Wenn es denn wirklich  so ist, dass die heutigen Twens sich so fühlen wie sie: Zu sehr auf Sicherheit bedacht, voller Pläne und Wünsche, aber ohne Bereitschaft zum Risiko. –
    Wenn es eine Generationsfrage ist, warum berührt es dann auch ältere Semester? Viele 40- bis 50-Jährige reagieren genauso begeistert wie Julias Altersgenossen.
  • Ist es die ewige Panik im Leben zu viel zu verpassen? Dieses Grundgefühl haben wir doch alle: „Ich war noch niemals in New York..“ Jeder hat einen Mangel oder einen Bedarf, viele Wünsche, die sich erfüllen sollen. Die Vorschläge, die Julia macht, sind allerdings noch nicht mal Weltreisen oder die Besteigung des Kilimandscharo. Es geht ja viel bescheidener zu, es reicht die Buddenbrooks gelesen oder endlich mal einen Marathon gelaufen zu haben..
    Pläne, die halt exemplarisch für ganz persönliche Ziele stehen. Im Übrigen gab es zu diesem Bereich der unerledigten Listen bis vor kurzem ein extra Internet-Portal: Schemer. Hier hat man seine Ziele angeklickt und sich von anderen motivieren lassen, sie auch zu erfüllen. Sie konnten ganz banal sein: Spanisch lernen, nach London reisen, Klavier lernen oder einen Kochkurs machen. –
    Die Panik, im Leben zu viel zu verpassen, hat man eher in jungen Jahren als später. Man hat auch einen gewissen Druck im Alter von 20 bis 30. Dieser treibt einen hinaus – zu den anderen Menschen – und treibt einen an, eigene Projekte in Angriff zu nehmen. Das ist gesund und äußerst natürlich.

    Aber auch später haben wir gerne Panik zu viel zu verpassen (Midlife-Crisis..). Ganz einfach, weil man immer etwas verpasst! Es ist dem einzelnen Menschen nicht möglich, in sein kleines Leben alles hineinzustopfen, was geht, und wenn man sich auf diesen Mangel konzentriert, wird er gefühlt immer größer.
    Haben wir Kinder und Familie, vermissen wir das Abenteuer. Haben wir das Abenteuer, vermissen wir Kinder und Familie. Wir verpassen also immer etwas.
  • Ist es schlichtweg der gesamte Inhalt? Der Inhalt besagt: Los, verwirkliche deine Träume, mach etwas Verrücktes – warum zum Teufel nimmst du dir lauter Dinge vor, die du dann nicht machst? Sei unangepasst und zeig der Welt, dass es dich gibt. .. oder so ähnlich..
    Aber Halt! Kennen wir das Credo nicht schon? Aus solchen Sprüchen wie: „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum!“ oder „Lebe jeden Tag als ob es dein letzter wäre.“ oder: „Ein Mann muss ein Haus bauen, einen Sohn zeugen und einen Baum pflanzen“ (welch Stress übrigens, wenn das einfach nicht hinhaut..).
    Auf Facebook strahlen mich jeden Tag ähnlich motivierende Sprüche, Verse und Weisheiten von bekannten und weniger bekannten, aber nachdenklichen Menschen an. Der Inhalt ist also nicht neu. Oder musste er vielleicht laut und bestimmt vorgetragen werden?
  • Ist es der optische und auditive Gesamteindruck? Kritiker des Hypes meinen, es läge alles nur daran, dass Julia süß und blond ist. Manche attestieren ihr eine sexy Stimme. Vielleicht ist es auch die Mischung aus Schüchternheit und Selbstbewusstsein, denn schließlich wird ihre Stimme zum Ende hin recht laut.
    Tatsache ist, dass die hübsche Blonde Schauspielerfahrung hat, da sie bereits zwei Jahre lang eine Rolle in einer RTL-Soup hatte. Das kann man ihr nicht vorwerfen, aber das hat sie wohl vielen Slammer-Kollegen voraus. Auch ihre anderen Videos haben schon Popstar-Qualität.
    Da weiß einfach jemand wie er sich auf der Bühne und vor der Kamera zu präsentieren hat. Kein Vorwurf, aber ein Grund für ihre starke Wirkung. Bei Poetry-Slam rechnet man eher mit unbekannten jungen Leuten aus dem Volk. Einige Slammer sind schon berühmt geworden wie Marc-Uwe-Kling, der dauernd mit einem imaginären Känguru spricht.

Wie dem auch sei, ich bleibe von dem Hype diesmal unberührt. Obschon ich andere massenhafte Begeisterung für eine Person schon geteilt habe. Ja, ich war auch mal Lena-Fan. Und sie spaltete die Nation in Hater und Liker. Das ist jetzt eben wieder so. Ich finde aber eine gesunde Analyse des Geschehens und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Poetry-Slams ist durchaus angebracht. Schließlich sagt er sehr viel über unsere Gesellschaft aus. Interessante kritische Beiträge zum aktuellen Hype findet man übrigens im Online-Magazin Wyme.de

Es sollte hierbei auch nicht nur um die Frage: Mag ich oder mag ich nicht (in diesem Fall geht es eher um „finde ich wunderschön oder finde ich schei..“ – einfach weil der Hype so ausartet..), sondern vielmehr um die Frage gehen: Warum finde ich es toll oder warum nicht?

Warum finde ich es eigentlich nicht so toll?

Zum einen, weil mir ähnlicher Inhalt dauernd auf Fb, eben in besagten Sprüchen und Versen begegnet oder auch in Blogs. Zum anderen weil ich schon seit vielen Jahren von anderen Lehren berührt bin: Zum Beispiel denen von Eckhart Tolle und Jiddu Krishnamurti. Diese ’spirituellen Meister‘ lehren und lehrten uns wie wir mit dem kostbaren Augenblick umzugehen haben.

Wir sollen daran arbeiten, bewusst zu leben, jede Sekunde, jede banale Sekunde..Wir können in der Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks, egal wie lächerlich er auch sein mag, zu innerer Ruhe und zu Erkenntnissen über uns selbst und unser Leben kommen. Wir können lernen, was uns bisher konditioniert hat und welche unserer Gedanken gar nicht von uns selbst stammen und uns negativ beeinflussen. Aber dies alles wäre ein Kapitel für sich.

Mein Lebensmotto ist übrigens: „Life is what happens to you, while you are busy making other plans.“ (John Lennon)

Dieses Motto ist ein Leitsatz und ein Trost für mich: Viele Pläne lassen sich nicht verwirklichen, weil das Leben uns Striche durch die Rechnung macht. Wir könnten daran verzweifeln, aber wir können auch daraus lernen. Ich habe daraus gelernt – und ich stresse mich nicht mehr damit, dass ich dieses und jenes in meinem Leben geschafft haben muss.
Andere würden vielleicht sagen: Suche Gott oder die Wahrheit in den kleinen Dingen.

Übrigens habe ich mir im Alter von Julia auch so einiges vorgenommen, was ich auch gemacht habe: Zum Beispiel habe ich damals die Bibel gelesen, einfach, weil ich wissen wollte, was da genau drinsteht.

Außerdem habe ich lange Zeit meinen Traum, eine eigene Band zu haben, gelebt.  Der Traum, mit Musik Geld zu verdienen, hat sich nicht verwirklicht. Zum einen stieß ich damals als Frau auf bestimmte Grenzen, zum anderen erfuhr ich auf einer Musikermesse, wie viele talentierte junge Menschen den selben Traum träumten wie ich.. und ich lernte, dass es auch eine Frage des Schicksals ist, ob man diesen Weg gehen soll oder nicht.

Aber ich habe lange Zeit intensiv mit Musik verbracht und ich habe dadurch eine gewisse Zufriedenheit erlangt, denn ich habe wenigstens versucht, diesen Traum zu leben. Ich bin so weit gegangen, wie es mir möglich war, dann waren die Türen verschlossen.  Andere träumen ihr ganzes Leben davon, ein Musikinstrument spielen zu können.. Sie sollten das endlich mal anpacken, denn das lohnt sich wirklich.

Ein anderer Punkt, warum mich Julias Worte zumindest im Moment nicht so berühren, ist die Tatsache, dass ich ziemlich schockiert bin, wie schlecht es in unserer Welt immer noch um die Rechte der Frauen steht.

Als ich Anfang Zwanzig war, dachte ich, dass nicht mehr lange muslimische Mädchen gegen ihren Willen verheiratet werden. Ich konnte es mir gar nicht anders vorstellen.

Damals fuhren übrigens zwei meiner ehemaligen Mitschülerinnen nach Indien. Eine Indien-Reise war für viele, besonders spirituell interessierte, Menschen ein Traum. Die beiden kamen voller neuer Eindrücke und toller Erlebnisse zurück. Heute ist eine Frau in Indien grundsätzlich gefährdet. Ich bin mit zunehmendem Alter immer mehr davon betroffen, wie schlecht es den Menschen überall auf der Welt immer noch geht. Hunger, Armut, Unterdrückung, Korruption, Gewaltherrschaft und religiöser Fanatismus überall. Ich hab ehrlich gesagt momentan schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, dass ich mir mehr Träume verwirklichen sollte.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*